E. L. KIRchner: Online Ausstellung zum 85. TODESTAG
«Ein 'Aufsteigender' aus dunkler Erde zum sonnigen Dasein»
Kirchners letzte Bilder, zwischen Verzweiflung und Zuversicht.
Ernst Ludwig Kirchners Todestag jährt sich 2023 zum 85. Mal – das Ernst Ludwig Kirchner Archiv nimmt das zum Anlass dem Künstler eine Online Ausstellung zu widmen. Das Ernst Ludwig Kirchner Archiv zum Gesamtwerk des Künstlers wurde seit 1978 von Dr. Wolfgang Henze und Ingeborg Henze Ketterer aufgebaut und befindet sich seit 1993 in Wichtrach/Bern.
Die Online Ausstellung bedient sich der reichhaltigen Quellen des Archives und begleitet Kirchners "letzte Bilder" mit Passagen aus seinen Briefen, um die Geschehnisse der letzten Jahre 1937/38 in Davos und der Welt zum Todestag wieder aufleben zu lassen.
In den Jahren 1937 und 1938 war Ernst Ludwig Kirchner, den inneren und äusseren Umständen seiner Lebenswelt(en) zum Trotz, äusserst aktiv, schuf Bedeutendes, festigte sein künstlerisches Selbstverständnis und entwickelte seine Malerei stetig weiter bis zu seinem abrupten Tod am 15. Juni 1938.
Die Online Ausstellung wird von Patrick Urwyler kuratiert.
Werkabbildung: Hirten am Abend (E. L. Kirchner und Erna), 1937, Öl auf Leinwand (Privatsammlung)
Zitat: Brief an Gustav Schiefler Davos, den 29. Juli 37
Die Empfindungen
50 x 36,9 cm cm auf 60,5 x 43,5
Gercken 1783; Dube H 673 II
(Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
Die letzten beiden Schaffensjahre 1937/38 von Ernst Ludwig Kirchner waren ein Auf und Ab, geprägt von Verzweiflung, Unruhe und Wut gefolgt von Phasen der Hoffnung, Harmonie und Zuversicht.
Programmatisch spiegelt sich im Holzschnitt "Die Empfindungen" die Gefühlswelt des Künstlers als Reaktion auf die Geschehnisse des turbulenten Jahres 1937. In diesem Jahr verkaufte Kirchner in der Schweiz, hat eine erste grosse Museumsausstellung in den USA (Institute of Art in Detroit), selbst das MOMA meldet sich bei ihm. Er hat in der Kunsthalle Basel eine grosse Ausstellung, aber der erwünschte Erfolg bleibt aus, in Deutschland wird seine Kunst aus den Museen verbannt und in der Ausstellung "Entartete" Kunst von den Nationalsozialisten an den Pranger gestellt (Das Beschlagnahmeinventar "Entartete Kunst" führt aktuell 748 Werke von Ernst Ludwig Kirchner).
Nur wenige Kilometer Luftlinie von Österreich entfernt, steht der zweite Weltkrieg buchstäblich vor Kirchners Tür. In seinem Haus am Wildboden führt er seit Jahren auch seinen eigenen inneren Kampf gegen Krankheit und Medikamentenmissbrauch. An seiner Seite ist Erna Schilling die Ihren langjährigen Lebensgefährten pflegt und unterstützt.
So unterschiedlich die Geschehnisse 1937 sind, so wandelt sich auch die Gefühlswelt des Protagonisten in Ernst Ludwig Kirchners Holzschnitt: Von links noch die Begeisterung im Rückgriff auf den nietzscheanischen Adoranten des Brücke-Beginns, rechts höher daneben schon die Verzweiflung, darunter weiter rechts zurückfahrende Überraschung und rechts oben bittendes Fragen.
Entartete Kunst, München 1937
Quelle: nytimes.com (Steven Spielberg Film and Video Archive, U.S. Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C., Julien Bryan Collection•March 13, 2014)
«Ein 'Aufsteigender' aus dunkler Erde zu sonnigem Dasein»
In vielen Briefen aus dem Jahr 1937 äusserte sich Ernst Ludwig Kirchner besorgt zu den Geschehnissen in Deutschland, insbesondere auch in Bezug auf seine eigene Person als Künstler. Neben der Verbannung seiner Bilder wurde Kirchner im Juli '37 auch aus der Preussischen Akademie ausgeschlossen.
Im Brief vom 29. Juli 1937 an Luise Schiefler beschreibt Kirchner ein neues Bild und mit etwas Pathos wohl auch sich selbst als "ein 'Aufsteigender' aus dunkler Erde zum sonnigen Dasein". Der Brief beginnt düster und liest sich stellenweise wie ein selbst verfasster Nachruf - endet aber dann mit neuen Bildern und damit einer gewissen Zuversicht für die Zukunft:
«Die Zukunft liegt recht dunkel vor uns. Wie sich die jüngsten Ereignisse im Ausland auswirken, weiss man noch nicht. Schaden werden sie dem Ansehen der gesamten deutschen Kunst, das ist das Bedauerliche und Traurige. Wir hatten ja schon 5 Jahre infolge der Devisensperre Not. Wenn es sein muss, bringe ich auch das Leben zum Opfer für die Kunst. Ich habe ein reines Gewissen und habe stets das Beste meiner Arbeit anderen gegeben. Ein gültiges Werturteil wird erst lange nach uns möglich sein, denn das Neue in geistigen Dingen wird nie zu der Zeit richtig verstanden, in der es geschaffen wird.
Wie ging es Rembrandt, wie Dürer, Franz Hals starb im Armenhause. Wie viele Künstler alter und neuer Richtung verhungern nicht heute? In allen Ländern. Doch es gibt nur eines, weiterschaffen mit allen Kräften. Ich bin bei grossen Bildern. Ein 'Aufsteigender' aus dunkler Erde zu sonnigem Dasein. Ein "Sommernachtstraum" u. anderes.»
Emporsteigender
50,0 x 36,8 cm auf 55.8 x 41.1 cm
Gercken 1785; Dube H 675 I
(Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
Den erwähnten "grossen Bildern" gehen bei Kirchner oft Studien (vgl. Infobox "Federzeichnung") und eine Auseinandersetzung in anderen Techniken voraus, wie dies der hier vorliegende Holzschnitt "Emporsteigender" exemplarisch zeigt, welcher der Allegorie des "Aufstieges" gewidmet ist. Der Holzschnitt ist zugleich der letzte des Werkverzeichnisses (Dube H 675 / Gercken 1785).
Das Thema des Holzschnittes war Teil von Kirchners Entwurf für die Ausgestaltung des Festsaales des Museum Folkwang in Essen. Die Ausführung wurde vom neuen, den Nationalsozialisten nahestehenden, Direktor verworfen, was Kirchner sehr enttäuschte. 1937 kommt Kirchner nun mit dem Holzschnitt und dem im Brief an Hagemann erwähnten Gemälde doch noch zum Abschluss dieses für Ihn so wichtigen Zyklus:
«Der Aufstieg. Soll die Entwicklung des Menschen zum Menschen zeigen. Der aufsteigende Mann unten die niederen Entwicklungsstufen Kampf und Liebe. Das Kind mitlaufend, ihn immer begleitend oben die Sonne und ruhige Paare im Licht. Das Bild gehörte zum Cyklus der grossen Wand des Saales. Nun male ich es so auf 150 x 200 cm.»
Unsere Kenntnis des erwähnten Gemäldes "150 x 200 cm" beruht einzig und allein auf den Briefen und einem Foto von Kirchner in seinem Foto-Album (siehe Infobox "Gemälde"). Im Brief an die Kunsthalle Basel vom 26.10.1937 anlässlich der Einzelausstellung im November 1937 ist das Bild in Kirchners Werkliste als "Aufsteigender" betitelt, jedoch von Hand durchgestrichen, was heisst, dass es am Ende nicht nach Basel geschickt wurde - und hier verliert sich die Spur dieses doch so zentralen Werkes von 1937.
Derartig dokumentierte Gemälde könnten, wie es gerade bei Kirchner schon oft vorgekommen ist, auf noch nicht bekannten Rückseiten von anderen Gemälden sein oder unter einer Übermalung liegen.
Anmerkung zum Originaldokument: Original im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, Bestand PA 888a N6(1)328 1937/8, Maschinenschrift, handschriftliche Ergänzungen von Kirchner kursiv gedruckt, zwei Seiten. Das Dokument lag dem Brief Nr. 3439 bei.
Scene aus dem Sommernachtstraum
196 x 150 cm
Gordon 1005
(Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
Zu den "grossen Bildern", die Kirchner 1937 in seinen Briefen erwähnt gehört auch das Gemälde "Scene aus dem Sommernachtstraum". Die Arbeit daran erwähnt er in einem Brief an Gustav Schiefler vom 29. Juli 1937. Wie das verschollene Gemälde "Aufsteigender" seinem Thema ein Schlusspunkt setzte, so entsprach der Sommernachtstraum Kirchners einer letzten Auseinandersetzung mit einem (grossformatigen) Bild aus der Literatur.
Im Gegensatz zu seinen "Brücke"-Kollegen wagte sich Kirchner immer wieder auch an das aussergewöhnlich grosse Format von zwei Metern Höhe oder Breite, das erste Mal bereits 1908 und 1909, dann ein bis zwei Mal pro Jahr. In den 30er Jahren werden es sogar noch mehr, als hätte Kirchner in seinem "Neuen Stil" selbst diese Tendenz der Jahre nach 1945 zum grossen Format auch vorweg genommen, nämlich die der amerikanischen Abstrakten Expressionisten, welche ihre Erfolge nicht nur der hohen Intensität ihrer Malerei verdanken, sondern auch der Tatsache, dass sie diese in sehr grossen Formaten realisierten. Insgesamt waren es rund dreissig solcher Grossformate, davon eines dreifach als Triptychon und drei in der Überbreite von vier Metern.
Kirchner schuf seine ganz grossen Formate zumeist als Abschluss und Krönung der langen Reihe einer grundlegenden Beschäftigung mit einer bestimmten Thematik. Dieses Gemälde ist das abschliessende seiner ihn vom Anfang seiner Kunst um 1905 an beschäftigenden Interpretationen einzelner Episoden aber auch ganzer Handlungen aus der Literatur, ein wahrer "Sommernachtstraum".
Blick auf das Wildbodenhaus, Frauenkirch, DavosKirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 2001, Inv.-Nr. 2./23L
Erna und Ernst - Die Bilanz am Wildbodenhaus, 1937
1937 war geprägt vom Weltgeschehen und dem Treiben der Nationalsozialisten – im Wildbodenhaus in Frauenkirch bei Davos war Ernst Ludwig Kirchner Mitte des Jahres auf dem Weg der Besserung. Durch die Pflege und Unterstützung seiner Lebensgefährtin Erna Schilling erholte er sich langsam von einer gefährlichen Darmkrankheit und Schöpfte neue Kräfte, die nicht nur in allegorischen Motiven und der Literatur ihren Ausdruck fanden, sondern auch in der Motivwelt der Berge die Ernst und Erna umgaben.
Seine Stellung als Maler im Brief an Gustav Schiefler noch selbstbewusst proklamierend, ist es aus heutiger Sicht unbestritten, dass Ernst Ludwig Kirchner zu den wichtigsten und innovativsten Malern der Darstellung der Schweizer Bergwelt gehört.
«[...] Mir geht es besser jetzt, ich erhole mich langsam von der schweren Krankheit des Winters und Frühlings. Im Mai dachte ich noch, es wäre mein letzter, jetzt hoffe ich noch auf ein paar Jahre des Schaffens.
Es ist ja noch so viel zu tun und die Kräfte sind noch so schwach. Ich male ganz aus dem Kopf jetzt. Zwei Hirten am Berghang, hinter ihnen die Kuhherde abwärts laufend. So etwas aus dem Kopf kann man erst als alter Mann machen, aber es freut mich, dass ich doch so weit kam.
Das bewunderte ich immer an Böcklin so sehr. Nur braucht es für uns keine Griechengötter mehr, um Lebensgleichnisse zu schaffen. Segantini wusste das auch schon und Hodler.»
Hirten am Abend
(E. L. Kirchner und Erna)
120 x 90cm
Gordon 1008
(Privatsammlung)
Im Florentiner Rahmen-Imitat von Renz.
In Ihrer Biographie zu Ernst Ludwig Kirchner nennt das Kirchner Museum in Davos das Gemälde "Hirten am Abend" als ein Hauptwerk des Jahres 1937.
Der Kunsthistoriker Anton Henze sieht die "Hirten am Abend" als eine "Schöpferische Zusammenfassung [...] es ist alles versammelt: die Figur des Vordergrundes, die wie in den Berliner Jahren das Bild bis zur oberen Kante beherrscht, die leuchtende Alpenlandschaft und die Herde, die Kirchner auf der Stafelalp entdeckte. [...] Unverkennbar in der formalen Komposition schliesslich Erinnerungen an die grossen Flächen des sogenannten Teppichstils. Die Teile schliessen sich in einer Harmonie zum Ganzen zusammen, die neu ist. Das Grossgedachte wird schön, die Natur zum Sinnbild."
Eine biografische Deutung liefert der Kirchner-Forscher Roland Scotti, der die beiden Hirten als Erna und Ernst identifiziert und als eine Projektion, die "die würdig gealterten 'Sondermenschen' am Abend ihres Lebens, am Ende ihrer Zusammenarbeit zeigt."
Roman Norbert Ketterer stütz die Interpretation und erwähnt in seinem Buch einige Stellen aus Briefen von Kirchner, in denen der Künstler die Sichtweise seiner Beziehung zur Erna Schilling bestätigt:
«Wenn zwei Menschen für das Leben zusammen gehen, so schliessen sie eine Vereinbarung zur Erreichung eines Zieles. Das Ziel bei uns ist und war, in der Malerei und Plastik die grösste und höchste Stufe zu erreichen [...]. Ich habe das Gefühl unendlichen Dankes gegenüber dieser Frau [...] aber Liebe... das habe ich nicht, das kann ich nicht haben. Dieses Gefühl ist in meiner Tätigkeit aufgegangen.»
Roland Scotti, Erna und Ernst sind im Bilde. Ikonografie und Wirklichkeit, in: Magazin IV, Erna und Ernst Ludwig Kirchner. Ein Künstlerpaar, hrsg. von Kirchner Museum Davos, 2003, Seite 37-48.
Roman Norbert Ketterer, Legenden am Auktionspult. Die Wiederentdeckung des deutschen Expressionismus, hersg. von Prof. Dr. Dr Gerd Presler, Ketterer Kunst Verlag, 1999, S. 284.
Bergatelier
120 x 90cm
Gordon 1002
(Kirchner Museum Davos)
Das "Bergatelier" ist ein weiteres Hauptbild von 1937. Wie bei den "Hirten am Abend" zieht Kirchner mit dem Bergatelier auch eine Bilanz, jedoch mit anderem Fokus, "bringt es [das Bild] doch summarisch im Interieur des Wildbodenhauses, die Vereinigung von Kunst und Leben zur Anschauung", schreibt Thorsten Sadowsky im letzten Kapitel seines Buches "Ernst Ludwig Kirchner. Weg ins Gebirge".
"Die perspektivischen fluchtenden Wände erscheinen mit dem starken Zickzackmuster wie ein Paravent, des sorgsam arrangiert entscheidende Stationen aus dem Leben und Werk des Künstlers vorführt. Wie in Kirchners Strassenszenen (vgl. Bildergalerie unten), tritt das Dreieck als dominierende geometrische Form auf. Demgegenüber symbolisiert der Kreis in Gestalt einer Zielscheibe Kirchners lebenslange Begeisterung für das Bogenschiessen und für dynamische Bewegungsabläufe. Das angeschnittene Gemälde "Balkonszene" von 1935 verweist auf Kirchners Arzt Dr. Frédéric Bauer, während die Holzplastik mit Bauer und Kuh als Hommage an das einfache Leben in den Bergen erscheint.
Die Beziehung von Mensch und Natur ist durch die geöffnete Tür, die den Ausblick in die Bergwelt freigibt, gegenwärtig. In der Mitte - wie auf einer Guckkastenbühne - präsentiert sich der Künstler halb verdeckt durch das Profil seiner Lebensgefährtin; das zentrale Motiv in der Tiefe der Bühne ist jedoch das exemplarische Gemälde "Rothaarige nackte Frau" von 1925/26."
Leben und Kunst sind zum Zimmerbild geworden. Alles ist Gleichnis und die Welt ist eine Wohnstube.
Junkerboden
60,5 x 70 cm
Gordon 1020
(Kirchner Museum Davos)
Die letzten beiden Jahre im Leben von Ernst Ludwig Kirchner waren aber nicht nur geprägt von abschliessenden Werken und Bilanzierungen, sondern auch von Experimenten und der aktiven Weiterführung seines Werkes.
"Junkerboden von 1938 ist imposant, weil sie [die Landschaft] demonstriert, dass Kirchner bis zum letzten Lebensjahr den Anspruch auf die Erneuerung der eigenen Kunst doch nicht aufgegeben hat. [...] 'Die Freude an der Farbe und an der Möglichkeit der Linie' behielt Kirchner zeit seines Lebens bei", schreibt die Kunsthistorikerin Hyun Ae Lee in Ihrem Buch über das Spätwerk Ernst Ludwig Kirchners.
«Ich kämpfe um grosse ruhige Flächen und tiefe volle Farben. [...] Ich will mehr geben als nur Seherlebnisse.»
Im Junkerboden ist ihm dies gelungen schreibt Lee weiter, und zwar mit dem Konzept des "neuen Kirchners": "Der Mischung von Naturbeobachtungen und Phantasiebild. Die gelben Lärchen wirken wie Stakkato in einer unhörbaren Musik der alpinen Landschaft, deren Monumentalität in tiefen Blau und träumenden Rosa tänzerisch auftaucht.
Es handelt sich um eine höchste Abstraktion, die auf der eigenen Selbsterfahrung sowie phantastischen Vorstellung Kirchners basiert, und die freilich ohne den Anteil der modernen Bildsprache, wie der biomorphen Gestaltung des Surrealismus, nicht denkbar gewesen wäre."
Zitat Kirchner aus dem Brief an Nele van der Velde vom 13. Oktober, 1918.
Copyright Abbildung: Werner Murrer Rahmen
Violettes Haus vor Schneeberg
62 x 74 cm
Gordon 1021
(Privatsammlung)
Auch das Bild "Violettes Haus vor Schneeberg" entspricht einer Arbeit im Sinne eines "neuen Kirchners". Der Ausgangspunkt der Komposition ist die Darstellung des Schiesstandes in Davos Islen vor dem Hintergrund der verschneiten Schiahörner. Kirchner klappt die Architektur auf, so dass zwei Seiten des Hauses frontal erscheinen. Trotz des hohen Abstraktionsgrades seiner Malerei in diesen Jahren scheinen solche Details wie hier an der rechten unteren Hausecke auf, ein ebenfalls in die Senkrechte geklapptes Drehkreuz für Fussgänger passierbar, für Kühe nicht.
Kirchner geht also wieder von einer realen Situation aus, einem Augenerlebnis wohl an einem klaren Frühlingsmorgen, als er von seinem Haus auf dem Wildboden nach Davos ging. Kirchner beschäftigte sich in diesen Jahren, angeregt durch befreundete Wissenschaftler in Davos, intensiv mit Fragen der Optik und der Wahrnehmung, mit Auren, welche das überklare Licht der grossen Höhe von Davos im Auge um die Dinge entstehen liess, mit Luftschatten und Nachhall-Effekten sich bewegender Gegenstände oder Menschen im Auge - alles Teil und Repertoire des Programmes eines "neuen Kirchners", respektive seines "neuen Stils".
Hier wird die zentrale Szene der Berge, des Hauses und der Menschen vor diesem von einem helleren fast Kreisrund umgeben, in das die äusseren dunkleren Zonen an einigen Stellen hineinstossen. Unsere durch Auge und Netzhaut bedingte "runde" Sicht auf die Welt intensiviert Kirchner hier durch kaleidoskopartige Verdichtung der Formen und Farben. Letztere sind trotz der inzwischen relativ beruhigten Formensprache Kirchners ein wahres expressives Feuerwerk.
Die grandiose Komposition, von Dunkel umgeben, das in sie einzudringen versucht, scheint das Haus, Menschen und die reine Gebirgswelt zu bedrohen. Auch in den Vorarbeiten zum Gemälde (siehe unten) werden die Auren, die Luftschatten, die Nachhall-Effekte im Auge bedrohlich und nehmen überlebensgrosse Ausmasse an.
Die Bedrohung, wie an anderer Stelle schon erwähnt, war real. Die direkte Involvierung Kirchners als "entarteter" Künstler und die Tatsache, dass am 13. März 1938 die uniformierten Widersacher plötzlich in Österreich standen, also Luftlinie nur zehn Kilometer von seinem Haus entfernt, brachte Kirchner Angst und Verzweiflung.
Er entfernte sofort die rot-blau bemalten Holzfiguren, die rings um sein Haus auf dem Wildboden das Künstlerhaus schon von Weitem also solches erkennbar machten. Er verbrannte auch seine sämtlichen Holzstöcke.
Eine Depression nahm ihren unaufhaltsamen Verlauf.
(Violettes Haus vor Schneeberg)
1938
Aquarell, Bleistift und Tusche auf Velin
15.5 x 24,5 cm
(Privatsammlung)
(Studie zum Gemälde)
1938
Aquarell über Feder und Pinsel in Tusche
35.5 x 47.2 cm
(Privatsammlung)
Erna Kirchner
Blumenteppich
Ernst Ludwig Kirchner - Lise Gujer
195 x 94 cm
Kornfeld 26 B
(Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
Der „Blumenteppich“ ist der letzte Entwurf, den Kirchner Lise Gujer vor seinem Freitod zur Umsetzung in Form eines Webteppichs zur Verfügung gestellt hat. Er wurde kurz nach seinem Tod vollendet.
Stillebenartig nah gesehene Wiesenblumen hat Kirchner in allen Techniken in Davos oft dargestellt. Hier unten in der Mitte eine grosse Zinerarie, darüber Sommerblumen in der Wiese und auf den Bergen Primeln. Sie sind zum Gleichnis stilisiert vor der Andeutung einer Bergkette im Hintergrund über ihnen.
Kirchner kam in Davos bereits früh mit der Weberin Lise Gujer in Kontakt und gab ihr viele Entwürfe zur Umsetzung in Form von Webarbeiten. Sie entwickelte eine eigene Handhabung in Form von Wirkteppichen, damit die Farben des Teppichs ihre Wirkung voll entfalten konnten. Sie hatte bereits in der direkten Zusammenarbeit mit dem Künstler erstaunlicherweise viel Freiheit und wirkte auch nach seinem Tod in seinem Sinne weiter.
Selbstbildnis
84 x 61 cm
n.b. Gordon 020
(Kunstmuseum Chur)
Das letzte "Selbstbildnis" von Ernst Ludwig Kirchner wurde erst Jahre nach seinem Tod im Jahr 1970 unter spektakulären Umständen im Kunstmuseum Chur entdeckt.
Das Bündner Kunstmuseum erwarb 1969/70 zwei Kirchner-Gemälde: "Bergwald" und "Augustfeuer". Bei beiden Gemälden stellte sich heraus, dass diese jeweils über einer zweiten Leinwand aufgezogen waren und beide vorderen Leinwände auch rückseitig bemalt waren. Bei "Augustfeuer" fand man auf der Rückseite das bis dahin unbekannte Gemälde "Bildnis Erich Heckel" (1909) und auf der darunter liegenden Leinwand das "Selbstbildnis".
Das Selbstbildnis mit umstrittener Datierung wurde zuletzt von der Kunsthistorikerin Hyun Ae Lee auf die Jahre 1937/38 datiert. Hyun beschreibt in ihrem Buch einzelne interessante Details des Bildes, so etwa das "Fingerzeichen" der linken Hand, welches man, so die Kunsthistorikerin, auch auf dem Plakat "Nie wieder Krieg" von Käthe Kollwitz finden kann. Hyun schreibt weiter: "Es [das Fingerzeichen] gebietet Einhalt und appelliert zum Frieden. Weitere symbolische Darstellungen finden wir bei der Zimmerausstattung. An der Wand hängt ein Teppich in drei Grundfarben, dessen Ornament offensichtlich an das indische Swastika, dem Lebensrad, oder Hakenkreuz der Nationalsozialisten erinnert. [...] Gegenüber dem Wandteppich mit dem Symbol der Gewalt, befindet sich ein friedliches Landschaftsbild.
Unter diesem Bild ist eine plastische Figur zu sehen, deren Körperhaltung mit geschlossenen Beinen und hochgehobenen Armen an das Signet der Künstlergruppe "Brücke" erinnert. Dieses Markenzeichen der Dresdner Künstlergruppe hatte Kirchner 1905 in einem kleinen Holzschnitt dargestellt und zwar als Symbol für die 'Jugend, die die Zukunft trägt', und die sich 'Arm- und Lebensfreiheit [...] gegenüber den wohlangemessenen älteren Kräften verschaffen will.' Mit dem Schwur zur Freiheit verbindet sich der Appell zum Frieden durch das Fingerzeichen. Links unten auf dem Bild kauert die Katze Schacky, als wäre sie ein Zeuge dieses Schwurs.
Der Kreis schliesst sich.
Waldfriedhof, 1933
Farbholzschnitt
35 x 50cm
Dube 644; Gercken 1729
(Kirchner Museum Davos)