Text zur Ausstellung

Im Dialog zu stehen, bedeutet nach Sokrates eine gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen. Eigene und fremde Gewohnheiten werden im direkten Gespräch miteinander geprüft und abgewägt, das eigene und das Wissen des jeweils anderen zu Tage befördert. Sinngemäss seiner griechischen Wortwurzeln „diá” (hindurch) und „légein” (erzählen, reden) versteht sich der Dialog als ein „Fliessen von Worten”, aus dem Griechischen „diá-logos” übersetzt. Der wörtliche Austausch, der in seinem Hier und Jetzt Beziehungen zum Gegenüber schafft, kann jedoch auch ein bildlicher sein: Wo das gesprochene Wort die Haltung seines Sprechers wiedergibt, kann das Kunstwerk die innere Fassung seines Erschaffers auf visuelle Weise ausdrücken. Werden zwei Künstler in eine direkte Gegenüberstellung zueinander gebracht, so vermag dies auf wundersame Art einen Austausch, ein “Gespräch” zwischen den Farben, Techniken und Stilen hervorbringen, das gar dem gesprochenen Wort als ebenbürtig angesehen werden darf.

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Mit der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner & Georg Baselitz im Dialog” wird eben diesem fruchtbaren Moment nachgegangen, welcher in der Zusammenschau zweier Künstler entstehen kann und dem überraschend viele neue Betrachungsweisen innewohnen. In ihrem zeitlich getrennt voneinander entstandenem Œuvre prägten und prägen Kirchner (1880-1938) und Baselitz (*1938) ganze Generationen von Künstlern und bereiteten den Weg für eine Kunst, die sich bunt, provokativ, konsequent gegen das Althergebrachte auflehnte und neue Ausdrucksweisen entwickelte. Die oftmals unterschiedlichen Ergebnisse dieses Schaffens, dem sich beide Künstler zeitlebens verschrieben haben, werden in ihrem Dialog miteinander dem Besucher jedoch auch eines aufzeigen: eine gemeinsame Wirklichkeit.

Während der mannigfaltigen Erlebnisse in und um die Jahre des Ersten und Zweiten Weltkrieges zeugte Ernst Ludwig Kirchners Werk vom Lebensgefühl eines Einzelnen und der Hoffnung einer ganzen Generation. Wie kein anderer hielt Kirchner die Unbeschwertheit seiner Dresdner und den kurzweilig auch glücklichen Berliner Tage in pulsierenden Grossstadtszenerien, vor fröhlichen Varieté-Kulissen, durch am See spielende Menschen oder dem sich frei in der Natur bewegenden Akt fest. Mit derselben Prägnanz skizzierte er jedoch auch die eigene Zerrissenheit während des Kriegseinzuges 1915 und dessen dramatischen Folgen in melancholisch-tristen Selbstporträts. Einen inspirierenden Neubeginn fand Kirchner schliesslich in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge um Davos, welche ihm bis zu seinem Tode einen Zufluchtsort boten und zur Entwicklung seines „Neuen Stils” in den 1920er Jahren anregten.

Was Kirchners Gemälde, Zeichnungen, Holzschnitte und Skulpturen vereint, ist ein einzigartiger Umgang mit der Farbe, vielmehr ein “Farbenreichtum”, der entgegen des Naturalismus das Gesehene in ausdrucksstarkem Rot, Blau und Gelb, später auch gerne in Rosa- und Brauntönen stark abstrahiert wiedergibt. Grobe, holzschnittartige Formen, das Auflösen der traditionellen Perspektive und Betonung der Flüchtigkeit des Moments wurden nicht nur zum stilistischen Erkennungsmerkmal Kirchners, sondern entfalteten seinerzeit politisches Potential: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden, […] wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften.”[1] Die Geburtsstunde des deutschen Expressionismus fällt mit der von Ernst Ludwig Kirchner und seinen Freunden Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff 1905 gegründeten Künstlervereinigung „BRÜCKE” zusammen. Mit ihr wurde ein Umbruch in der künstlerischen Produktion vollzogen, der mit dahin konventionellen Gestaltungsweisen brach und das eigene Erleben in den Vordergrund stellte.

Als radikaler Avantgardist einer europäischen Moderne legte Kirchner seine Rebellion gegen das Establishment schon früh im Programm der „BRÜCKE” an und blieb dieser in seinen „aggressiven Deformationen” des Gegebenen immer treu. Was Kirchner für den damaligen Zeitgeist an unkonventionellen Gestaltungsweisen zeigte, kulminiert endgültig in Baselitz’ „Kunstlosigkeit”, dem Auflehnen gegen den „guten Geschmack”, das die expressive Kunst weiterdenkt.

Georg Baselitz gilt als polarisierender Künstler, der Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner Kunstform zu einem radikalen Umbruch in der Kunstgeschichte beitrug und dabei einen Ausweg aus der zeitgenössischen abstrakten Malerei bot. Selbst die Einordnung seines Stiles fiel schwer, so schwankte man zwischen Surrealismus und Expressionismus, wenig später wurde seine Kunst dem «Neoexpressionismus“ zugeordnet, wobei der Begriff eher negativ konnotiert war. So hat sich der Künstler gegen die Etikettierung als Neoexpressionist stets gewehrt, genauso wie Kirchner es abgelehnt hat, als Expressionist bezeichnet zu werden.[1]

Nicht nur diese ablehnende Haltung gegenüber einem „Schubladen-Denken“ verbindet beide Künstler, die ein halbes Jahrhundert trennt. 1938 wird Georg Baselitz, eigentlich Georg Hans Kern, in Deutschbaselitz in Sachsen geboren, im selben Jahr verstirbt Ernst Ludwig Kirchner in Davos.

Tatsächlich lernt Georg Baselitz die Werke Kirchners und der „BRÜCKE“-Künstler erst später, nach seiner Jugend kennen, da diese wegen des Bildersturms der Nationalsozialisten aus allen Ausstellungsräumen verbannt wurden. Erst im Jahr 1983 tauchen im Werk des Meisters direkte Bezüge zur Künstlergruppe „BRÜCKE“ auf. Doch wie Günther Gerken bereits die Frage formulierte: „[…] soll man die Brücke-Bilder als eine Auseinandersetzung mit der expressionistischen Malerei der Brücke verstehen oder nur als eine Reminiszenz an die Künstlergruppe bei der Suche nach einem Modell für eine neue expressive Figurenmalerei?“[2] Schliesslich ist es weniger der Stil Kirchners, der Baselitz beeindruckt, sondern seine Haltung als Künstler, als Mensch, sein Aussenseitertum und nicht zuletzt seine Einsamkeit. Hinsichtlich Ernst Ludwig Kirchners Schaffen handelt sich um eine Affinität, die sich in Baselitz’ Schaffen über Jahre hinweg verfolgen lässt.

So sind im zeichnerischen Werk deutliche Parallelen beider Künstler zu erkennen, obwohl, wie Günther Gercken feststellt, deren Intention sich grundsätzlich unterscheidet, weil Baselitz’ Kunst anders als die Ernst Ludwig Kirchners keine abbildhafte ist und er die „Zeichnung als Gebilde [entwickelt], welches das Motiv absorbiert, aus sich selbst. Dabei reicht die Formvariation, anders als bei der zusammenraffenden Bildsprache der Expressionisten, von der äußersten Reduktion der Bildzeichen bis zur manieristischen Verschnörkelung und Überladenheit.“[3]

Die Zeichnungen beider Künstler werden bestimmt vom spontanen Erfassen der Sinneseindrücke, von Beobachtetem und Empfundenem und insbesondere der Schnelligkeit im Arbeitsprozess. So ist dies in der Zeichnung „Büsche“ von Baselitz aus dem Jahr 1969-70 gleichermassen zu entnehmen wie in Kirchners „Menschen unter Bäumen (Blühende Bäume)“ von 1909.

Eine gemeinsame Technik der beiden Künstler findet sich im Holzschnitt. Während dies in der graphischen Gestaltung mit das wichtigste Ausdrucksmittel Kirchners, insbesondere der „BRÜCKE“-Künstler, war, belebte Baselitz 1966 den für diese Zeit ungewöhnlichen Clair-Obscur-Farbholzschnitt aus dem 16. Jahrhundert wieder.

Indes scheinen sich die Motive der beiden ebenfalls zu überlagern: Der Mensch im Fokus des Schaffens. Während allerdings bei Kirchner die Natur eine nahezu gleichwertige Stellung einnimmt, entstehen Baselitz’ Motive meist durch Destruktion vorhandener Bilder. Der Künstler macht selbst vor eigenen Bildern nicht halt, wie die Serie „Remix“ zeigt, in der er vergangene Motive seines Œuvres wieder aufgreift und diese zu einer Art Darstellung einer Interaktion mit der eigenen Vergangenheit macht.

Trotz der vielen stilistischen Wandlungen, denen das Werk von Georg Baselitz im Laufe der Jahrzehnte unterworfen war, ist ein einheitliches, unverkennbares Gesamtwerk entstanden, das mit seiner Individualität und Einzigartigkeit und insbesondere seiner Innovation ganz dem von Ernst Ludwig Kirchner entspricht.

Der Dialog zwischen Georg Baselitz und Ernst Ludwig Kirchner wird in der Ausstellung durch Plastiken von Daniel Spoerri (*1930) abgerundet. Seine aus Assemblagen entstandenen Köpfe und tierischen Gebilde schaffen wiederum motivisch eine Verbindung innerhalb der Œuvre aller drei Künstler und ermöglichen gleichzeitig einen neuen Blick auf die Werke von Georg Baselitz und Ernst Ludwig Kirchner.

Susanne Kirchner und Katharina Sagel

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