Micromégas, ein junger Mann von ca. 40 km Grösse, reist auf Sonnenstrahlen und Kometen vom Sirius zum Saturn und von da aus, in Begleitung eines Saturnbewohners, zur Erde. So „berichtet“ es Voltaire in seiner gleichnamigen Erzählung von 1752. Die unterschiedlichen Grössendimensionen in dieser Erzählung zwingen den Leser zu ständigen Perspektivwechseln: als Kind seziert Micromégas Insekten zwanzig Mal so gross wie ein Mensch unter dem Mikroskop, der Saturnianer ist im Verhältnis zu Micromégas nur ein trippelndes Schosshündchen, die winzigen Menschen werden erst vergrössert durch Zentnerschwere Diamanten in Micromégas‘ Halskette sichtbar. Diese Perspektivwechsel führen in der Erzählung immer wieder zur Relativierung der eigenen beschränkten Vorstellungen.
Der Wechsel zwischen dem ganz Kleinen und dem ganz Grossen hat eine Parallele in der abstrakten Kunst seit Kandinsky und Klee. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse wie die Relativitätstheorie oder die Quantentheorie, die immer grössere Reichweite von Teleskopen und die immer feinere Einstellung von Mikroskopen haben neue Bildwelten eröffnet und im Verhältnis dazu den Bereich dessen, was der Mensch als Realität wahrnimmt extrem schrumpfen lassen.
Die Naturnachahmung im naturalistischen Bild, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr realistisch. Kunst findet jetzt einerseits auf der Ebene von Atomen und Zellen, andererseits zwischen Planeten und kosmischen Nebeln statt. Aber nicht dass die Kunst jetzt die Natur in ihren extremen Dimensionen nachahmen würde. Sie hat den Anspruch einerseits die Ordnung wiederzugeben, die im Grossen wie im Kleinen herrscht, andererseits die Transformationen die dort vor sich gehen. Dies zeigt sich sowohl in der geometrischen Abstraktion bei Lazlo Moholy Nagy oder De Stijl, als auch in abstrakten biomorphen Formen bei Kandinsky, Klee, Hans Arp oder Fritz Winter. Klee zufolge gibt Kunst nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar, auch wenn das zum Teil mehr mit Spekulation und Esoterik als mit Naturwissenschaft verbunden ist.
Das Informel, die dominierende Form der Abstraktion der 50er Jahre in Europa geht noch einen Schritt weiter. Es stellt nicht mehr Natur in ihrer Ordnung und ihren Wandlungen dar, sondern setzt den künstlerischen Prozess mit natürlichen Prozessen gleich. Die informelle Malerei stellt Natur nicht mehr dar, sondern ist selbst ein Ausdruck der Natur. Sie stellt nicht mehr Realität dar, sie ist selbst real, als Bewegung des Künstlers beim Malakt und als modellierte Farbmaterie. Dabei entstehen Oberflächen, die einen naturwüchsigen Eindruck machen: wuchernde Gewebe, pflanzenartiges Dickicht das zu kalligraphieartigen Zeichen werden kann, erdige, krustige Oberflächen, wolkenartige Gebilde kosmischen Ausmasses.
Der Prozess, der sich bei Voltaire aus dem Wechsel der Perspektive im Austausch zwischen den Protagonisten ergibt, hat seine Parallele in der informellen Malerei im Austausch zwischen Maler und Farbe. Der Maler beginnt wie zufällig, lässt Farbe über die Leinwand laufen oder trägt sie mit Spachtelhieben auf. Die Reaktion des Materials bestimmt die weitere Aktion des Künstlers. Aus der Interaktion zwischen Maler, Material und werdendem Bild entsteht so das Kunstwerk. Das Informel stellt damit den Höhepunkt in der Entwicklung der Malerei zur Autonomie dar: Das Gemälde dient nicht mehr der Darstellung, sondern der Reflektion ihrer eigenen Bedingungen: des Malakts und der Bildmaterie.
Das hin und her zwischen Maler und Farbe wiederholt sich zwischen Betrachter und Bild. Die abstrakten Bilder, die sich nie konkretisieren, können auch als Protozustand betrachtet werden, Formen in ihren vielfältigen Möglichkeiten vor ihrer definitiven Ausformulierung. Der Betrachter muss sich im Ungegenständlichen seinen eigenen Weg durchs Bild bahnen und bekommt nicht, wie in der klassischen Malerei Formen, Beziehungen, Perspektiven, und Blickverläufe vorgeschrieben. Besonders bei Schultze geht es wie beim Surrealismus darum auf diese Weise das Unterbewusste ans Licht zu bringen.
Der Austausch zwischen Künstler und Bild, ebenso wie der zwischen Bild und Betrachter, setzt sich fort zwischen den Betrachtern im Austausch über ihre unterschiedlichen Ansichten über das Bild, der nie zu einem Ende kommt, so wie die Protagonisten bei Voltaire über den Geist die Seele und das Wesen der Dinge nie zu einem endgültigen Abschluss kommen. In den Bildern des Informel reflektiert sich damit auch der Zeitgeist. Die Betonung des Individuums, dessen Selbstbestimmtheit und Freiheit, führt zu unterschiedlichen Perspektiven, die in der Interaktion ein Modell für die Demokratie abgeben. Besonders in Deutschland richtet sich das gegen die Bevormundung durch die kurz zuvor überwundenen Nazis und den Kommunismus in Ostdeutschland. Als Ausdruck der Freiheit in diesem Sinn ist das Informel dann auch politisch instrumentalisiert aber nicht, wie der sozialistische Realismus, vorgeschrieben worden.
In der Entwicklung der Malerei zur Autonomie ist das Informel als Höhepunkt zugleich der Endpunkt. Die Performativen und materiellen Bedingungen der Malerei, der Malakt bei Goetz, Sonderborg, Thieler etc. und die Farbe und Maloberfläche bei Thieler, Schuhmacher und Schultze etc. verselbständigen sich in der Folge. Der Prozess der Autonomie setzt sich fort in der Ergründung von Aktion und Material in Performances und Happenings und in der Arte Povera, der Landart oder dem Nouveau Réalisme, in denen das reale Material und die Natur selbst bearbeitet, arrangiert und ausgestellt werden. Ein Schritt in diese Richtung stellen auch die Migofs von Bernard Schultze dar, die sich aus dem Herauswachsen der Farbe und der Bildoberfläche aus der zweiten Dimension ergeben und erst in Reliefs und schliesslich in Farbplastiken manifestieren, die frei im Raum stehen.
Die Ausstellung zeigt vor allem unsere grossformatigen Werke: Fritz Winter, der Micro- und Makrokosmos in Form von Zellen und Planeten analog setzt, die Informellen vor allem Schultze mit seinem frühen Bild „Vitalité“, seinen Reliefs und seinem Spätwerk, das weite gebirgige, himmlische oder kosmische Räume suggeriert und phantastische Wesen heraufbeschwört, Riesen die Micromégas und den Saturnier darstellen könnten, Thieler mit einem Spachtelbild und kosmischen Formationen, Bott, der aus Vogelperspektive Geflechte von urbanen Gebilden und diese umgebende Landschaften und kosmische Strahlengebilde kreiert, den Schweizer Abstrakten Theo Eble, der sich über ein Geflecht, das sich aus der Abstraktion von Zweigen ergibt einer geometrischen Abstraktion annähert und den Bildhauer Karl Hartung, der ausgehend von menschlichen Formen zu „vegetativen“ und „organischen“ Formen kommt unter anderem im fast zwei Meter grossen „Urgeäst“.
Kai Schupke