Im Rahmen der Ausstellungsserie: Expressiv! Abstraktion in der Moderne
Eine Geschichte in acht Beispielen: Francis Bott - Günther Gumpert - Ernst Ludwig Kirchner - Bernard Schultze - Fred Thieler - Hann Trier - Theodor Werner - Fritz Winter
In der letzten, Ende 1924 vielleicht sogar Anfang 1925 entstandenen Zeichnung Kirchners in der von Will Grohmann 1925 herausgegebenen Publikation von 100 Zeichnungen des Künstlers deutete sich dessen Wandel zum «Neuen Stil» ein erstes Mal an. Diesen entwickelte er in den folgenden Jahren in strenger Vereinfachung von Form und Farbe und sich steigernder Abstraktion zu einer eigenständigen und eigenwilligen Variante der allgemeinen gleichzeitigen europäischen Bestrebungen hin zu einer Malerei und Plastik aus Farbfeldern und Volumina, die von Endlosschlaufen eingefasst waren und die dann 1931 in Paris als «Abstraction-Création» bezeichnet wurde in der Gründung einer ebenso benannten Gruppe. Zu dieser zählten rasch bis zu 400 internationale Künstlerinnen und Künstler, vom Ältesten, dem Russen Wassily Kandinsky *1866 bis zum Jüngsten, dem Japaner Taro Okamoto *1911. Diese Entwicklung wurde 1937 jäh unterbrochen und lebte erst ab 1948 wieder auf um sich dann von einem eher europäischen zu einem Weltphänomen auszuweiten.
Unsere Ausstellung soll diese sich über und durch die gewaltig-gewalttätige Zäsur von Kunstverbot, von Zweitem Weltkrieg und Shoah entwickelnde und doch irgendwie immer wieder kohärente Geschichte der Kunst der Mitte des 20. Jhs. an Hand einiger sehr unterschiedlicher Fallbeispiele erzählen.
1924/25, wir sahen es, begann in der Kunst Ernst Ludwig Kirchners (1880-1938) ein Stilwandel, der seine höchste Konsequenz und Reinheit von 1928 bis 1933 erreichte. Zwar blieb Kirchner immer dem Figurativen eines Augenerlebnisses verhaftet, wie in «Spielende Badende» von 1928 erkennbar. Erkennbar sind aber schon dort die ineinander verschlungenen und von einer Endloskontur umschlungenen Farbfelder, Hauptcharakteristik der «Abstraction-Création».
Diese gelangen in den beiden Gemälden von 1933-34 «Akte im Wald», von denen wir hier die kleine Fassung neben Zeichnungen und zwei Fassungen des Farbholzschnittes zeigen und anbieten können, zu reinster Form.
1928/29 begann Fritz Winter (1905-1976) am Bauhaus, in Berlin und Davos abstrakt zu malen. Als Bergarbeiterkind erlernte auch er zunächst diesen Beruf. Als politisch Engagiertem gelang ihm mit 19 Jahren der Sprung in die Freiheit des in den 20er Jahren kulturell bedeutenden internationalen Vagabundentums und schliesslich in die Kunst. Nach raschem Erarbeiten der stilistischen Entwicklung der Kunst seit 1880 drang er tiefer in deren jüngste Entwicklung durch ein Studium am Bauhaus ein, von 1927 bis 1930 bei Kandinsky, Klee und Schlemmer, sowie durch Zusammenarbeit mit Kirchner in Davos in den Jahren 1929 bis 1932. Ein Jahr zuvor entschied er sich bereits für die Abstraktion, die er bis zu seinem Tode unermüdlich erprobte. Nach hoffnungsvollen künstlerischen Anfängen, verbunden mit Lehrtätigkeiten in Berlin, wo er dem Werk und der Persönlichkeit des Plastikers Naum Gabo begegnete, und in Halle in den Jahren 1931-33 tauchte er bereits in eben diesem Jahr in Allach bei München mit seiner Lebensgefährtin in innerer Emigration unter, die er selbst sogleich als „Exil“ verstand und malte „auf Halde“, wie er es nannte. Trügerische Hoffnung keimte noch 1936 durch die beantragte und - wohl irrtümlich, denn jede künstlerische Konzession lag ihm fern - bewilligte Aufnahme in die Reichskulturkammer, der 1937 endgültiges Malverbot folgte. Fritz Winter arbeitete weiter, wurde aber im August 1939 zum Militärdienst eingezogen und musste - von wenigen Urlauben und Lazarettaufenthalten nach Verwundungen unterbrochen - das ganze Drama des zweiten Weltkrieges bis zum Mai 1945 miterleben, als er in russische Gefangenschaft geriet, aus der er erst im Mai 1949 entlassen wurde. Er begann sofort wieder zu arbeiten und seine Werke erregten schon 1950 auf der Biennale in Venedig internationales Aufsehen. Als Protagonist war er erfolgreich an der in den folgenden Jahren heftigen „Abstraktions-Debatte“ beteiligt und erlebte mit zahlreichen Ausstellungen und Anerkennungen in der zweiten Hälfte der 50er Jahre den Zenit seines Erfolges. Diese kurze Lebensbeschreibung ist beispielhaft für die der folgenden Künstler.
1930 fand auch Theodor Werner (1886-1969) zur Abstraktion, obwohl fast eine Generation älter als Fritz Winter. Bis dahin, in Grosssachsenheim bei Stuttgart lebend, eher einer impressionistischen Malerei verpflichtet, wagte er 1930 die Übersiedlung nach Paris und wurde Mitglied der Gruppe «Abstraction-Création». Dort lernte er seine Frau «Woty» kennen, ebenfalls Malerin und vor allem Weberin. Fast sein gesamtes Werk wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Wir können aber eines der Hauptwerke der Pariser Jahre zeigen, die «Figuren» von 1934. Diese Figuren sind wohl weniger – wie etwa bei Kirchner – von einem Seherlebnis «abstrahiert» sondern Kunst-Kreationen in denselben Formen und Farben. Von 1946 bis 1959 lebte und arbeitete er in Berlin als wichtiger Akteur der Abstraktion in Deutschland.
Aus dieser Zeit zeigen wir das Gemälde «Zeichen in Bewegung II» von 1953.
Ab 1959 lebte er bis zu seinem Tode in München und hinterliess seinen Nachlass den Bayerischen Staatsgemälde-Sammlungen.
Kirchner, Winter und Werner waren auf unterschiedliche Weise direkt und indirekt an der Entwicklung der Abstraktion um 1930 hin zur Abstraction-Création beteiligt, während die weiteren Künstler unserer kleinen Ausstellung zu jener Generation gehörten, für die - nach ersten abgebrochenen Anfängen vor dem Kriege - die ersten Nachkriegsjahre weltweit grosse Umwälzungen brachte und in denen das Jahr 1948 zum Schicksalsjahr der Kunst wurde. Das ganze weltweite Ausmass von Zerstörung, Leid und Tod des Zweiten Weltkrieges, der im Atomkrieg 1945 endete, von Holocaust und weiterer Untaten der kriegführenden Mächte war inzwischen allmählich bekannt geworden und die Friedenshoffnungen der noch 1945 gegründeten Vereinten Nationen mit dem Ausbruch des Kalten Krieges durch die Berlin-Blockade 1948 im Keim erstickt. Vor diesem Hintergrund erschien eine Darstellung des Menschen in der Kunst nicht mehr möglich. Einziger Ausweg war die Abstraktion von Form und Farbe, die zugleich das Höchstmass an Freiheit bot, ein hohes Gut, das alle anstrebten, vor allem Künstlerinnen und Künstler.
1948, dem Schicksalsjahr der Abstraktion, begann auch die von Francis Bott (1904-1998) nach wechselvollsten Jahrzehnten in der anarchistisch-kommunistischen Vagabundenszene Europas der zwanziger Jahre in Deutschland, Wien, Prag und Paris sowie im französischen Untergrund in den Pyrenäen und wieder in Paris. Dort wurde Francis Picabia sein Freund und Mentor. Als unabhängiger Freigeist schloss er sich keiner Gruppe an, nahm auch nicht an übergreifenden Ausstellungen teil, war jedoch in Frankreich, England, Deutschland und der Schweiz in den 50er Jahren durch hervorragende Galerien vertreten.
1948, dem Schicksalsjahr der Abstraktion, begann auch die von Bernard Schultze (1915-2005). Wie bei den anderen Malern der hier gezeigten Gruppe gab es einen Kunststudien-Anlauf vor dem Zweiten Weltkrieg auch bei ihm in den 30er Jahren. Diese ersten Werke wurden kriegsbedingt zerstört. Nach dem Wehrdienst 1939 bis 1945 kam er nach Frankfurt zur Zimmergalerie Franck, in die Gruppe Quadriga und lernte sein Frau Ursula kennen. Dort wurde er zu einem der bedeutendsten deutschen Exponenten des Informel, lebte und arbeitete auch vielfach in Paris, zog 1968 nach Köln.
Die besonders die Freiheitsgedanken formulierende Frankfurter Nachkriegsszene hat Schultze und Ursula geprägt, so dass er 1992, als die DDR-Künstler en globo in «seine» Akademie der Künste aufgenommen wurden, unter Protest aus dieser austrat.
Seine Website beginnt treffend mit: «Bernard Schultze ist einer der zentralen Protagonisten gestisch-abstrakter Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Name und Werk sind untrennbar mit der internationalen Erfolgsgeschichte des deutschen Informel verbunden.» Wir zeigen hier einige kleinere Werke der 50er Jahre. Die Galerie verfügt über eine sehr grosse Auswahl von Schultzes Werken.
1948, dem Schicksalsjahr der Abstraktion, begann auch die des Kölners Hann Trier (1915-1999). Er gehörte auch zu den wenigen Überlebenden seiner Generation. Er konnte gerade von 1934 bis 1938 noch ein Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf absolvieren und in Berlin 1939 abschliessen, dann bis 1945 Kriegsdienst. Währenddessen, wohl weil er von 1941 bis 1944 als Technischer Zeichner in Berlin (als Soldat) tätig war, nahm er an den Großen Deutschen Kunstausstellungen 1941 und 1943 in München teil, eine biographische Besonderheit in dieser Gruppe unserer Ausstellung. Danach lebte er in Bonn, war Mitbegründer der Neuen Rheinischen Sezession 1948 und ab 1951 Mitglied der Münchner Gruppe ZEN49. Er nahm an der documenta I, documenta II und documenta III in Kassel teil. Von 1957 bis 1980 war Trier Professor und später Direktor der Hochschule für bildende Künste in West-Berlin. Wir zeigen ein herausragendes grosses expressives Gemälde des Jahres 1960.
1948, das Schicksalsjahr der Abstraktion, dürfte auch in Fred Thielers (1916-1999) Leben und Arbeit seine Spuren hinterlassen haben. Er fand nach Wehrdienst und Untertauchen wegen und mit einer jüdischen Mutter in München dort dennoch den Mut, eine private Kunstschule zu besuchen. Von 1946 bis 1950 studierte er bei Karl Caspar an der Akademie der Künste, malte erste abstrakte Werke. Von 1951 bis 1953 lebte und arbeitete er in Paris, 1952 wurde er Mitglied der Gruppe ZEN49.
Auch er ein herausragender Exponent des Informel in einer besonders expressiven Variante. Folgende kleine Auswahl aus seinen Ausstellungsbeteiligungen mögen seinen Stellenwert zeigen: 1958: 29. Biennale di Venezia; 1959: documenta II, Kassel; 1964: documenta III, Kassel; 1984: von hier aus, Düsseldorf. Wir zeigen einige expressive Beispiele aus den 50er und 60er Jahren. Weitere grosse und expressive Werke in unserer Galerie.
1948, im Schicksalsjahr der Abstraktion, begann auch die von Günther Gumpert (1919-2019). Ein 1937 begonnenes Kunststudium in Krefeld und Wuppertal wurde durch Kriegsdienst von 1939 bis 1945 unterbrochen. Autodidaktisch arbeitete er in den ersten Nachkriegsjahren weiter, in Wuppertal um die legendäre Galerie Parnass und bald mit einem Atelier in Paris in der Rue de Vaugirard, (dort Freundschaften mit Francis Bott und Johnny Friedlaender), lebte und arbeitete aber oft wechselnd in Spanien, Marokko, Jugoslavien, Schweiz und vor allem in Rom, bis er 1967 nach Washington übersiedelte.
Wie Bott ein unruhiger Geist mit schrecklichen Kriegserinnerungen im Gepäck, ein Wanderer zwischen den Welten, Europäer und Weltbürger avant la lettre, immer auf der Suche nach ein wenig Frieden und der Möglichkeit ein wenig zu Malen, lyrische Dichtungen in Farbe und Schwarz-Weiss.
Diese Abstraktion nach 1948, die heute so leichtfüssig daherzukommen scheint, sie hatte es keineswegs leicht. Diese Freiheit musste durchaus erkämpft werden gegen das überstarke, über 1945 hinüberschwappende konservative und ewig gestrige Gedankengut und durchaus auch in Grabenkämpfen in Kunstakademien, Museen und Kunstkritik. Erst 1959 in der «Documenta II» konnte sie sich voll durchsetzen. Möglicherweise als letzter Zeit-Stil der Kunst wurde sie zum ersten Welt-Stil. Ihr Umfang und ihre Ausbreitung ist in den fünf monumentalen Bänden der von 1971 bis 1988 bei Maeght erschienenen Publikation von Michel Ragon und Michel Seuphor einzusehen (liegt hier aus).
Diese Abstraktion ist gerade in und durch ihre «Sprachlosigkeit» eine ganz wesentliche Aussage der Kunst zu ihrer Zeit: Von 1930 bis 1960 und darüber hinaus gegen den Faschismus und für Freiheit in Frieden.
Wolfgang Henze